Antisemitische Verschwörungsmythen nutzen verschiedene, immer wiederkehrende Motive. Eines davon ist die jüdische Lüsternheit und sexuelle Gewalt, die von Juden*Jüdinnen angeblich ausgeht. Als aktuelles Beispiel dafür kann die Verschwörungserzählung #Pizzagate gesehen werden, welche ein Grundstein für den Verschwörungsglauben von QAnon ist.
Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 hatten rechte Trolle mit geleakten E-Mails von Politiker*innen, darunter auch von Hilary Clinton, den Mythos einer Verschwörung gesponnen, bei der die gesamte “Ostküstenelite” (ausgenommen natürlich Donald Trump) einen Kinderpornographie-Ring betreiben würde. Als Codewort würde “c.p.” oder “cheese pizza” verwendet, was für “child pornography” steht. Treffpunkt sowie Tatort sei eine Pizzeria in Washington. Dort würden sich die “Eliten” zum Kindesmissbrauch treffen.
Neben Poltiker*innen meint der Begriff “Ostküsteneliten” wohlhabende – und vor allem jüdische – Unternehmer*innen. Dieser Verschwörungsmythos reiht sich also ein in eine lange Folge von antisemitischen Äußerungen, die Juden*Jüdinnen Lüsternheit, sexuelle Gewalt und Pädophilie unterstellen.
Ursprünge in der Antike
Ihren Ursprung hat dieses Motiv bereits in der Antike, als römische Autoren begannen, eine Art Ethnographie zu betreiben. Tacitus stilisiert Juden*Jüdinnen, in seinen Ausführungen zum Aufstand in Judäa, zu einem “fremden, gottlosen” Volk, das seltsamen, sexuellen Praktiken nachgehen würde, da im jüdischen Glauben zu dieser Zeit die Heirat mit Andersgläubigen verboten war und sie außerdem männliche Beschneidung betrieben, was im römischen Reich nicht verbreitet war. Er beschrieb sie als lüstern und sexuell freizügig, unterstellte ihnen Polygamie. Historische Beweise dafür gibt es nicht, es handelt sich nur um eine Fremdzuschreibung. Mit Folgen: dem antisemitischen Stereotyp der jüdischen Lüsternheit.
Frühes Christentum und früher Islam
In der Antike sowie im frühen Mittelalter wurde dieses Motiv immer wieder herangezogen, um den jüdischen Glauben zu diskreditieren. Der später heilig gesprochene Philosoph und Kirchenvater Justin der Märtyrer lehnte eine wörtliche Auslegung von alttestamentarischen Schriften ab, weil er darin vor allem die Intention sah, Polygamie und Obszönität im Judentum zu rechtfertigen.
Auch in den Schriften des Diakon Johannes Chrysostomus (4. Jhd.) ist Antisemitismus zu finden, z.B. als er über jüdische Fastenrituale sprach, die angeblich mit ausufernden Paraden und Feiern einhergingen und wo Prostitution stattgefunden hätten. Weil Chrysostomus befürchtete, seine Gemeindemitglieder könnten sich lieber dem Judentum zuwenden, verwendete er sexuelle, antisemitische Polemiken, um sie abzuschrecken. Er erklärte sich eine Zuwendung zum Judentum übrigens vor allem damit, dass Juden*Jüdinnen mit sexuellen Versprechen fromme Christen anlocken würden (Drake: 2013).
Aber nicht nur das frühe Christentum, sondern auch der frühe Islam kennt das antisemitische Symbol der jüdischen sexuellen Gewalt. Zwar schuf die Verfassung von Medina die Basis für ein friedliches Zusammenleben von jüdischen und muslimischen Bewohner*innen von Medina, aber dennoch kam es wohl zu Vertreibungen von Juden*Jüdinnen – und zwar wegen (angeblicher) sexueller Belästigungen einer Muslimin durch einen jüdischen Goldschmied, so eine Schrift der Sira.
Es handelt sich bei diesem Text um eine Erklärung, die man sich später für einen Sachverhalt machte. Diese war geleitet von antisemitischen Stereotypen über Juden*Jüdinnen und ihre angebliche sexuelle Gewaltbereitschaft (Bostom: 2008).
Die Darstellung von jüdischer Lüsternheit in der Kunst

Biblische Geschichten und Personen waren beliebte Motive der darstellenden Kunst. Als Beispiel für die Darstellung kann zum Beispiel dieses Bild dienen. Es zeigt die Jungfrau Susanna, die beim Baden von zwei älteren Herren beobachtet wird und schließlich auch sexuell genötigt wird. In der christlichen, mittelalterlichen Auslegung der alttestamentarischen Geschichte handelt es sich bei den zwei Männern um lüsterne Juden, die die keusche Susanna “beschmutzen” würden. Das Motiv war weit verbreitet und damit auch der antisemitische Stereotyp, dass von Juden*Jüdinnen sexuelle Gewalt ausgehen würde.
Oft wurde allerdings auch das Judentum als Verführerin – also als nackte, junge Frau – dargestellt, was für Sündenhaftigkeit und Lüsternheit stehen sollte.
Verknüpfung mit anderen antisemitischen Motiven
Im weiteren Verlauf der Geschichte wurde das Symbol der jüdischen Lüsternheit vor allem mit anderen antisemitischen Motiven wie Geldgier verknüpft. Dies deutete sich in Karikaturen, die in den immer erfolgreicher werdenden Massenmedien erschienen, an, die wir hier nicht abbilden möchten. Auch Henry Ford schrieb die zunehmende Sexualisierung von Hollywood-Filmen im ausgehenden 20. Jahrhundert Juden*Jüdinnen zu, die sowohl ihrer Wolllust als auch ihrer Habgier nachgehen würden.
Verwendung im Nationalsozialismus
Besonders zur Zeit des Nationalsozialismus wurde wieder verstärkt auf das antisemitische Motiv der jüdischen sexuellen Gewalt zurückgegriffen. Ich möchte hier nur einiges nennen, weil es einfach zu viele Beispiele gibt.
Zum einen wurde in den Nürnberger Rassegesetzen die sogenannte “Rassenschande” verboten. Deutschen war nun die Ehe mit Juden*Jüdinnen nicht mehr erlaubt. Man unterstellte Juden*Jüdinnen, sie würden die “deutsche Rasse” beschmutzen. Gleichzeitig warnte man davor, dass jüdische Männer sich über “deutsche” Frauen und Mädchen hermachen würden und somit “Rassenschande” betreiben würden. Besonders deutlich wird das im Kinderbuch “Der Giftpilz”, in dem ein fiktiver jüdischer Kinderarzt seine jugendlichen Patientinnen sexuell missbrauchte. Diese Komponente der Pädophilie erinnert stark an den Verschwörungsmythos #Pizzagate.
Auch die Filmproduktion “Jud Süß” ist ein schockierendes Beispiel für die Nutzung des Stereotyp der jüdischen Lüsternheit. Die Film soll die Geschichte der historischen Person Joseph Oppenheimer (Hofrat und Finanzrat im 18. Jahrhundert) erzählen, der entgegen historischer Faktizität als korrupt und geldgierig sowie als grausamer Vergewaltiger und Mörder. Die Darstellung als Sexualstraftäter ist zentral für den Film. Erschreckend ist allerdings, dass auch die reale Person Oppenheimer immer wieder als Sexualstraftäter verleumdet wurde.
Fortleben bis in die Gegenwart
Wer denkt, dieser antisemitische Stereotyp hat nach der NS-Zeit sein Ende gefunden, der*die irrt sich leider gewaltig. Auch heute greifen antisemitische Verschwörungserzählungen das Motiv auf. Was nicht nur #Pizzagate gezeigt hat. Auch Seiten wie thedailystormer.com teilen Karikaturen und Memes, die sich in sozialen Medien rasant verbreiten und vielen zugänglich gemacht werden. So hat man z.B. bestimmte jüdisch-orthodoxe Gebetshaltungen mit Sexualpraktiken verglichen.
Sehr verbreitet ist auch das (falsche) Zitieren von Talmud-Zitaten – der Talmud ist eines der wichtigsten Schriftstücke im Judentum -, in denen angeblich die Vergewaltigung von (Klein-)Kindern gutgeheißen wird. Nicht nur in rechten Verschwörungsideologien kommt dieses antisemitische Motiv der Pädophilie immer wieder vor, auch manche islamische Prediger und einige Anhänger der BDS-Bewegung warnen vor der sexuellen Gewalt, die von jüdischen Männern und Rabbis ausgehen würde.
Die Annahme, Juden*Jüdinnen seien sexuell gewalttätig und lüstern, ist interkulturell und transreligiös verbreitet und kann bis in die Antike zurückverfolgt werden – und nie hatte und hat es nur auch im geringsten Sinn irgendetwas mit der Lebensrealität von Juden*Jüdinnen zu tun. Antisemitische Stereotypen prägen den jahrtausendealten Diskurs, der über das Judentum geführt wird. Nur durch Information können Stereotypen erkannt und bekämpft werden.
Bostom, Andrew (2008): The legacy of Islamic antisemitism: From sacred texts to solemn history. Amherst, New York: Prometheus Books.
Drake, Susanna (2013): Slandering the Jew: Sexuality and Difference in Early Christian Texts. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
Küntzel, Matthias (2020): Islamischer Antisemitismus, online unter: https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307771/islamischer-antisemitismus.